Ein Jahrhundertleben

Sendezeit: 21:00 - 21:45, 07.06.2023
Genre: Zeitgeschichte
  • Untertitel für die Sendung verfügbar
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  • Von: Heike Schieder, Ole Lerch, Kathrin Klein
Rund 100-jährige Menschen tauchen auch in dieser Folge "Ein Jahrhundertleben" tief in ihre Erinnerungen ein. Mit dem Blick in ihre Fotoalben lassen die acht Zeitzeuginnen und -zeugen die Zuschauenden an ihren ganz persönlichen, einschneidenden Erlebnissen und emotionalsten Momenten teilhaben. Der Blick auf ihre Lebensgeschichten ist zugleich eine Reise durch die deutsche Geschichte. Wie blicken die acht unterschiedlichen Menschen auf die Vergangenheit und die Gegenwart? Was waren ihre persönlichen Glücksmomente, und was hat sie geprägt?
Eckhardt Erbguth, geboren am 7. März 1923, wohnt in Dabel und arbeitet in seinem Atelier. Er modelliert Frauenkörper, Tiere, Türklinken. Als Bildhauer und Maler hat er sich in Mecklenburg einen Namen gemacht. Einige seiner Kunstwerke stehen sogar im öffentlichen Raum, so seine "Handglockenspielerin" vor der Kirche in Dabel oder seine Kranich-Gruppe im Gutspark Wamckow. Eckhardt Erbguth stammt aus Züsow bei Neukloster. Als Sohn eines Försters und einer Hausfrau wurde er mit 18 Jahren Wachsoldat im Führerhauptquartier Wolfsschanze. Dort wählte man ihn aus, Hitler neue Wehrmachtsuniformen in der Nähe von Salzburg vorzuführen. Erst später erfuhr er, dass diese Vorführung für ein Attentat auf Hitler genutzt werden sollte. Doch die Bombe wurde nicht gezündet. 1953 floh Eckhardt Erbguth kurz vor seiner drohenden Verhaftung aus der DDR: Er hatte für die FDP regelmäßig Schulungsmaterial aus Westberlin geholt. Im Westen machte er Karriere beim Zoll in Münster, kaufte nach der Wende eine stillgelegte Tischlerei. Dorthin kommen Schülerinnen und Schüler, um von ihm zu lernen.
Als Hans Helmut Killinger am 7. Juli 1926 in Rostock geboren wurde, war sein Vater Direktor einer der größten Industriebetriebe im Norden: der Rostocker Neptun-Werft. Mit 16 Jahren wurde Hans Helmut Killinger Flakhelfer, anschließend leistete er Arbeits- und Wehrdienst. Als er 1946 aus britischer Kriegsgefangenschaft nach Papendorf zurückkehrte, wurden er und sein Vater verhaftet. Nach vier Wochen kam Hans Helmut frei, musste aber Rostock innerhalb von 24 Stunden verlassen. Nach einem erfolgreichen beruflichen Neuanfang im Westen studiert er mit 96 Jahren noch jeden Tag die Börsenkurse. Als die Familie nach der Wende die Villa zurückbekam, restaurierte sie der jüngste Sohn von Hans Helmut aufwendig und machte daraus ein Veranstaltungszentrum. Hans Helmut Killinger hat dort prominente Gäste wie Klaus Maria Brandauer, Hannelore Elsner, Friedrich von Thun und viele mehr erlebt.
Gerda Gidl aus Kiel, Jahrgang 1923, fing früh mit Handball an und konnte sich so dem Dienst beim Bund Deutscher Mädel entziehen. Im Jahr 1930 trat sie dem THW Kiel bei und war während der Entstehung dieses Porträts das älteste aktive Mitglied des Vereins. Sie ist befreundet mit THW-Stars wie Hein Dahlinger, Namensgeber des THW-Maskottchens Hein Daddel, Fritz Westerheider und Fritz Weßling. Nach deren aktiven Karrieren spielte sie noch bis Mitte 90 mit ihnen Volleyball. Ihren Enkelkindern ist vor allem ihre unkonventionelle Art des Kochens von früher in Erinnerung: null bio, viel Butter und bloß kein exotisches Gemüse oder gar ausländische Gewürze.
Walter Benthin, geboren am 28. Januar 1923, war zunächst ein kränkliches Kind. Im Krieg mehrfach verwundet, lernte er im Lazarett seine Frau Erna kennen, eine Krankenschwester. Nach dem Fall der Mauer setzte er sich für die Verständigung von Ost und West ein und bekam in seiner Funktion als Präsident im Schützenverein das Bundesverdienstkreuz verliehen. Er lebt in Ratzeburg, hat vier Kinder, 13 Enkel und 17 Urenkel. Und nach dem Tode seiner Frau hat er sogar eine neue Partnerin im gleichen Alter, die in Zarrentin lebt. Trotz seines Alters pendelt Walter Benthin regelmäßig.
Gerda Borck, Jahrgang 1920, macht noch fast alles selbst: Haushalt, Garten, Gästebewirtung. Selbstständigkeit ist ihr sehr wichtig. Und sie ist an allem interessiert, was passiert: ob Fridays for Future, Genderdebatte oder Energiekrise. Die Seniorin liest jeden Tag die Zeitung und diskutiert gern mit Freundinnen über aktuelle Themen. Gerda Borck leitete viele Jahre ein Erziehungsheim in Ostfriesland und immer noch Kontakt zu einigen "ihrer Kinder". Zeitlebens hat sie versucht, die NS-Zeit für sich aufzuarbeiten, hat diverse Konzentrationslager und vor allem Auschwitz besucht und war davon tief beeindruckt und schockiert.
Zu den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen gehören zudem Elfriede Berkhahn, Jahrgang 1924, aus Ramlingen: Sie genießt nach den Coronaeinschränkungen wieder den Kontakt mit vielen Menschen beim Erntefest. Wilhelm Schniedering, Jahrgang 1922, aus Melle lebt mit Enkel und Urenkeln unter einem Dach und mag den Trubel. Er macht Gartenarbeit, hilft bei der Ernte auf einer Apfelplantage und grillt am Wochenende mit der ganzen Familie. Und Ingrid Haerder, geboren im Juni 1925, wuchs als Kind eines Kapitäns in Hamburg auf und erlebte ebenso wie ihr späterer Mann Schreckliches im Krieg. Trotzdem sprachen sie nie darüber. Der erste Luxusgegenstand nach der Zeit der Entbehrungen war ein kleines Auto aus Holz.

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